Unter den Hunderten von Auswertern befand sich ein junger Ingenieur namens Herman Hollerith, angestellt als Sachbearbeiter zur Erstellung einer Statistik über »Dampf- und Wasserkraft in der Stahlindustrie«. Der Zwanzigjährige, der gerade das College-Studium abgeschlossen hatte, fiel dabei wegen besonderer Leistung auf und erhielt bald eine Gehaltserhöhung wegen »herausragender Effizienz«.
Aus seiner Kindheit gibt es wenig zu berichten: Geboren wurde er am 29.Februar 1860 als Kind deutscher Auswanderer aus der Pfalz. Sein Vater starb, als Herman sieben Jahre alt war. Auffällig wurde der Junge, als er sich im Alter von neun Jahren weigerte, weiter die Schule zu besuchen, denn die Rechtschreibung bereitete ihm große Schwierigkeiten. Seine Mutter stellte daraufhin seine Erziehung durch einen Privatlehrer sicher. Den College-Abschluß als Ingenieur erwarb er bereits mit 19 Jahren an der Columbia School of Mines in New York.
Anders als Zuse plagten Hollerith jedoch Geldsorgen; nach seiner Anstellung für den Census hielt er einen Kurs am MIT, arbeitete kurze Zeit im Patentamt und entwickelte eine elektrische Zugbremsensteuerung. Zwar war keine dieser Tätigkeiten übermäßig erfolgreich; sie brachten ihm jedoch Erfahrungen, die für seinen späteren Erfolg mit den Tabelliermaschinen wichtig waren.
Während dieser Zeit machte sich Hollerith bereits Gedanken über eine Zählmaschine. Seine erste Idee, die Censusdaten hintereinander in einen langen Papierstreifen einzulochen, verwarf er aus praktischen Gründen bald wieder, denn »man müßte mehrere Meilen Papier durchlaufen lassen, nur um ein paar Chinesen zu zählen.« [2]
Das Prinzip der Lochkarte war dabei keine Erfindung Holleriths; sie wurden schon seit langem zur Steuerung der Jacquard-Webstühle verwendet, die ihm auch bekannt waren. Inspiriert dazu hatte ihn nach eigener Aussage ein Trick, den Eisenbahnschaffner benutzten: Sie lochten die Fahrkarten an bestimmten Stellen, um gewisse Merkmale eines Passagiers, wie Geschlecht und Hautfarbe, festzuhalten und so eine mehrfache Benutzung des Tickets durch verschiedene Personen auszuschließen. Auf diese Weise kam Hollerith auf die Idee, mit einer solchen Karte eine »Loch-Photographie« einer Person herzustellen, die wie eine echte Photographie alle charakteristischen Merkmale enthielt. Als begeisterter Photograph verglich er auch später noch eine Volkszählung mit einem Photo: Der Tag der Zählung war die Belichtung eines Negativs, und die Auswertung entsprach der Entwicklung der Aufnahme, bei der dann das Ergebnis und einzelne Details sichtbar wurden. [16]
Das Prinzip der Erfindung bestach durch seine Einfachheit: Die Daten eines Fragebogens wurden mit Hilfe des Kartenlochers und einer Schablone auf eine Lochkarte übertragen. Dabei wurden Zahlenwerte nicht numerisch kodiert, sondern lediglich durch ein bestimmtes Feld dargestellt (so gab es zum Beispiel einzelne Felder für die verschiedenen Altersgruppen). Eine fertig gelochte Karte wurde dann von Hand in die Stiftbox eingelegt und deren Hebel geschlossen. Im Innern befanden sich an jeder vorgesehenen Lochposition ein Stift, der von oben her auf die Karte drückte. War eine Stelle nicht gelocht, wurde der Stift blockiert; bei einem Loch dagegen fiel er durch, tauchte in darunterliegendes Quecksilber und schloß so einen Kontakt, der dann eine der vierzig Zähluhren weiterschaltete. Gleichzeitig öffnete sich ein Fach des Sortierkastens, in das die Karte, auch wieder von Hand, eingelegt wurde.
Genial wurde Holleriths Erfindung durch ihre Flexibilität: Durch entsprechende Verdrahtung der Relais konnten Holleriths Zählmaschinen den Bedürfnissen der Auswertung angepaßt werden, was bereits eine einfache Form der »Programmierbarkeit« darstellte. Außerdem war es durch geeignete Verschaltung möglich, mit einer Zähluhr mehrere Eigenschaften zu zählen, die gleichzeitig zutreffen mußten, beispielsweise alle männlichen Schwarzen im Alter von 20-30 Jahren. Ein weiterer Vorteil war die Möglichkeit der Mehrfachauswertung: Durch den Sortierkasten konnten vorsortierte Karten erneut nach anderen Kriterien ausgezählt werden. Auf diese Weise war es möglich, die Daten beliebig genau aufzuschlüsseln und auszuwerten.
Beim ersten großen Einsatz, dem Census des Jahres 1890, übertraf das Hollerith-System sogar die kühnsten Erwartungen: Nach nur sechs Wochen lag eine erste grobe Auswertung der Daten vor, schon im Dezember desselben Jahres, zwei Jahre früher als geplant, konnte das offizielle Endergebnis bekanntgegeben werden (die Vereinigten Staaten zählten 62.622.250 Einwohner). Statt wie erwartet einer halben Million wurden 5 Millionen Dollar an Kosten für den Census gespart.1
Im »Electric Engineer« von 1891 war zu lesen:
»Dieser Apparat arbeitet unfehlbar wie die Mühlen Gottes, aber er schlägt sie glatt in bezug auf die Geschwindigkeit.«Für die 2000 an der Auszählung Beteiligten (zumeist Frauen) waren die Maschinen jedoch nicht unbedingt eine Arbeitserleichterung. Waren die bisherigen Volkszählungen eher ein gemütlicher Nebenjob (man hatte ja mehrere Jahre Zeit), mußte nun fast rund um die Uhr gearbeitet werden. Jede Stunde, die eine Maschine stillstand oder ausfiel, war ein Verlust. Häufigste Ursache für eine »Reparatur« war fehlendes Quecksilber - um eine kleine Pause zu haben, wurde es des öfteren heimlich ausgegossen.
Nachdem einige Jahre zuvor die Produktion von Gütern industrialisiert worden war, bedeuteten Holleriths Tabelliermaschinen eine Industrialisierung der Informationsverarbeitung.
Die eigentlich lukrative Einnahmequelle waren jedoch die Lochkarten: Sie wurden in riesigen Stückzahlen benötigt; da sie nicht wiederverwendet werden konnten, sorgten sie für stetige Einnahmen.2 Der Herstellungspreis für 1000 Lochkarten betrug 30 Cent, verkauft wurden sie für knapp $1 pro Tausend; später wurden die Maschinen sogar kostenlos zur Verfügung gestellt.
»Wenn unsere Reichsregierung heutzutage mit allen Kräften darauf denkt und dahin zu wirken sucht, daß man nach Möglichkeit derartigen Opfern der Arbeitslosigkeit hilft (...), dann scheint es mir auch unserer Pflicht entgegen zu sein, eine mechanische Maschine Menschen vorzuziehen und vielleicht eines entbehrlichen Mehrgewinns an gewissen Einzelheiten und Kombinationen wegen eine sehr bedeutende Summe jährlich nicht in der Weise zu verwenden, wie sie von jenen sozialpolitischen Gesichtspunkten aus verwendet werden müßte.«Im Jahre 1910 übernahmen jedoch auch die Deutschen Holleriths Lochkartensystem, und noch im gleichen Jahr wurde die »Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft mbH« (DEHOMAG) gegründet. Im Jahre 1949 ging daraus IBM-Deutschland hervor.Polytechnisches Zentralblatt 1896, [8]
Hollerith erkannte schnell, daß seine Erfindung nicht allein für Volkszählungen eingesetzt werden konnte. Die Industrialisierung der Betriebe nahm zu, immer mehr Produkte wurden in Massenproduktion hergestellt. Als Folge fielen mehr und mehr Daten an, die ohne Unterstützung durch Maschinen nicht mehr effizient verarbeitet werden konnten: Eisenbahngesellschaften hatten ihre Frachten zu verwalten, Versicherungen ihre Kunden, Fabriken ihre Aufträge, Löhne, Lager und Kosten. Hollerith entwickelte weitere Maschinen gezielt nach den Bedürfnissen dieser Betriebe und Institutionen und konnte so, nach einigen anfänglichen Akzeptanzschwierigkeiten, sein Lochkartensystem erfolgreich vermarkten.
Die Notwendigkeit, Daten mit Hilfe von Maschinen zu verarbeiten, ist somit eine direkte Folge der Industrialisierung.
Auch beim Census im Jahre 1900 wurden Hollerith-Maschinen verwendet. Wenige Jahre später präsentierte Hollerith eine weitere Neuerung: die automatische Ablaufsteuerung. Die Karten wurden von der Maschine selbständig von einem Stapel eingezogen, ausgewertet und sortiert. Zum ersten Mal steuerte hier die Lochkarte selbst und nicht der Mensch den Ablauf. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit wurde so auf 400 Karten pro Minute gesteigert, was die Effizienz der Maschinen (und den Bedarf an Lochkarten) beträchtlich erhöhte.
Im Jahre 1905 fiel Herman Hollerith bei den staatlichen Stellen in Ungnade - es gab Unstimmigkeiten über Preis und Patente, außerdem war er wegen seiner Hitzköpfigkeit bekannt; der Erfinder war von seinem Staat maßlos enttäuscht, ganz ähnlich wie vor ihm Charles Babbage in England. Der Census 1910 wurde mit Maschinen seines Konkurrenten James Powers durchgeführt, dessen Firma fast ein halbes Jahrhundert eine Konkurrenz bleiben sollte (siehe Abbildung). Hollerith konnte sich nun jedoch ganz auf die kommerzielle Anwendung seines System konzentrieren.
Die »Tabulating Machine Company« leitete er (wie seine Familie) als autoritäres, aber auch großzügiges Oberhaupt; er bestand darauf, fast alle Entscheidungen persönlich zu treffen, und auch die technischen Entwicklungen lagen fast ausschließlich in seiner Hand. Mit zunehmender Größe wuchs ihm die schnell expandierende Firma jedoch mehr und mehr über den Kopf, so daß er sich im Jahre 1911 entschloß, sie zu verkaufen.
Der Verkauf von Holleriths »Tabulating Machine Company« war der erste Schritt einer Entwicklung, aus der im Jahre 1924 IBM hervorging (siehe Abbildung). Käufer war Charles Flint, ein gerissener Geschäftsmann, der Holleriths Firma mit zwei anderen Firmen vereinigte: mit der »Computing Scale Company«, die Rechenwaagen herstellte, und der »International Time Recording Company«, die Stechuhren produzierte. So kam es zu dem Namen »Computing-Tabulating-Recording Company« (C-T-R) für den neuen Konzern.4 Im Jahre 1914 stieß Thomas J. Watson, der spätere Gründer von IBM, zu C-T-R; von ihm ist im nächsten Abschnitt die Rede.
Mit den Hollerith-Maschinen konkurrierte das Tabelliersystem von James Powers; seine Maschinen funktionierten nach demselben Prinzip, waren jedoch billiger. Diese Konkurrenz bestand über drei Generationen weiter: Das Nachfolgeunternehmen von Powers Firma, »Remington-Rand«, war in den dreißiger Jahren IBMs schärfster Konkurrent auf dem Schreibmaschinenmarkt, und in den fünfziger Jahren (als »Sperry-Rand«) auf dem Gebiet der frühen Computer.
Nachdem Hollerith noch einige Jahre als Berater für C-T-R tätig gewesen war, zog er sich später ganz aufs Land zurück und widmete sich ausschließlich seiner Familie und seinen Hobbies: Mit der gleichen Gründlichkeit und Entschlossenheit, mit der er seine Firma aufgebaut hatte, züchtete er nun Kälber, sammelte Boote, konstruierte und errichtete Scheunen, Schuppen und Vogelhäuser auf seiner Farm. Weitgehend unbeachtet von der öffentlichkeit starb Herman Hollerith am 15. November 1929 im Alter von 69 Jahren.